24. Polarnacht 2017
50 km Nacht/Tag, 100 km
Vor noch nicht einmal einem halben Jahr hatte ich mir geschworen keine weiteren extremen Wandertouren im Streckenbereich der 50 km oder gar mehr zu absolvieren. Aber scheinbar war der Schmerz vom Mammutmarsch im letzten Jahr schon wieder vergessen und mein innerer Ansporn einfach zu groß, dass ich erneut diese Herausforderung suchte. Übung macht bekanntlich ja den Wandermeister und da ich seit Juli 2016 regelmäßig jogge, wollte ich mich erneut dieser Herausforderung stellen.
Im November letzten Jahres wurde ich mehr oder weniger zufällig über Facebook durch die Marschgruppe „EarnYourBacon“, mit der wir im letzten Jahr bereits eine Trainingswanderung absolvierten, auf die im Januar 2017 stattfindende Berliner Polarnacht aufmerksam. Diesmal war es eine geführte Wanderung vom Wandersportverein Rotation Berlin e. V. mit den Distanzen 50 oder 100 km. Für einen Geldbetrag von 3 Euro für 50 km oder aber 5 Euro für die etwas längere 100-km-Strecke sollte Muskelkater garantiert sein. Schnell fand ich ein Team von Wanderlustigen, die sich mir sofort begeistert anschlossen. Wir entschieden uns für die Nachttour durch Berlin über 50 km bis zum Zielort Falkensee.
Mit Spannung verfolgten wir Tage zuvor den Wetterbericht. Nur zwei Tage vor der Wanderung herrschte ein reger Schneesturm und niemand konnte sich vorstellen bei diesen Bedingungen durch die Nacht zu wandern.
Am Freitag, den 13. Januar starten wir pünktlich um 20 Uhr vom DB Reisezentrum an der Friedrichstraße mit fast 100 Wanderfreunden. Vor der Kälte schützen, sollte mich das altbewährte Zwiebelsystem. Ausgerüstet mit den passenden Schuhen, die mir schon beim Mammutmarsch treu zur Seite standen, einer Stirnlampe gegen die Dunkelheit und ausreichend Verpflegung im Rucksack konnte die neue herausfordernde Mission beginnen. Eis, Schnee und Glätte? Man muss wohl verrückt sein! Es hätte eigentlich nur noch Regen gefehlt, um den Albtraum perfekt zu gestalten.
Bei 3 Grad ging es im schnellen Laufschritt quer durch die Stadt. Die Wege waren teilweise vereist, dies verlangte uns zusätzlich sehr viel Kraft ab. Bis zur ersten Pausenstation nach 21 km bei McDonald’s an der Zitadelle gestaltete sich die Wanderung noch relativ entspannt. Die ersten Blasen wurden versorgt und nach ca. 40 Minuten setzten wir den Marsch mit dem Zwischenziel Eiskeller fort.
Der Vollmond schien hell und leuchtete uns den Weg. Die Gruppe legte ein strammes Marschtempo an den Tag bzw. an die Nacht. Die Streckenführung gleich einem Hindernislauf, der Weg war übersät mit bedrohlichen Stolperfallen. Es war stellenweise gefährlich glatt und nicht nur die Muskeln, sondern auch die Stimmung war sichtbar angespannt. Alle Wanderer waren sehr gefasst von der Situation und setzten bedacht Schritt vor Schritt. Niemand wollte stürzen und auch wollte keiner die anderen mit seinen Ängsten anstecken. Nach und nach setzen die Schmerzen ein und jeder hatte mit sich zu kämpfen. Bei Kilometer 30 hatte ich mein erstes gravierendes Tief, welches ungefähr eine halbe Stunde andauerte. Um meine Gefühlslage in dieser Tiefphase passend zu beschreiben, würde ich formulieren, ich hegte für einen Augenblick den Wunsch meine Mitstreiter aus der Wanderung zu entfernen, kurz gesagt, ich hätte sie töten können, hätten sie mich angesprochen. Immer und immer wieder stellte man sich die Frage:
Warum nimmt man an solchen Veranstaltungen teil?
Warum quält man sich an einem Freitag bei Nacht durch die glattesten Straßen des eisig kalten Berlins?
Es war die Sehnsucht nach Abenteuer und die Möglichkeit an seine Grenzen zu gelangen. Diese Begründung schien angesichts des Tiefs absurd. Mit dem Wissen, dass auf dem Tief für gewöhnlich ein Hoch folgt, läuft man einfach weiter und erträgt die schlechten Gedanken, bis der Willen sich wieder gefangen hat. Schritt für Schritt, getragen von der Gruppe und immer mit dem Ziel vor Augen. Doch nur kurze Zeit später kündigte sich das nächste Tief an. Wir zählten Kilometer 35, noch 15 km bis zum Ziel. Eine weitere Pause, um uns aufzuwärmen, die Muskeln zu lockern oder einfach nur die Blase zu erleichtern, war bis Falkensee nicht in Sicht. Die Schmerzen in den Beinen und in den Füßen hörten einfach nicht mehr auf, ein Dauerschmerz setzte ein. Wie Zombies liefen wir durch die Straßen, die jetzt zu eisigen Waldwegen entlang der Havel wurden. Das Passieren der Wanderstrecke erschwerte der unebene und stark vereiste Untergrund. Nicht nur körperliche, sondern auch volle geistige Aufmerksamkeit verlangte die Wanderstrecke von jedem ab. Wir versuchten uns im Team gegenseitig zu motivieren, es wurde still, da jeder mit sich und seiner eigenen körperlichen Verfassung zu kämpfen hatte.
Endlich in Schönwalde an einer Kreuzung angekommen, mussten wir im Team eine schwere Entscheidung treffen: entweder weitere 8 km Richtung Eiskeller mit der Gruppe zu laufen, eine riesige Schleife für eine kurze Pause im Freien, oder aber in unserem Dreierteam auf dem direkten Weg sich Richtung Ziel zu bewegen. Wir entschieden uns für die 5 Kilometer auf dem direkten Weg zum Bäcker in Falkensee.
Schon auf dem Zahnfleisch kriechend, erreichten wir die große Chaussee. Die letzten Kilometer auf der Straße zogen sich wie ein zäher und endloser Kaugummi. Die Verzweiflung war uns ins Gesicht geschrieben. In einem tranceartigen Zustand humpelten wir Schritt für Schritt die Chaussee entlang und konnten komischerweise für einige Augenblicke lachen. Die aussichtslose Lage und die gewöhnungsbedürftige Art unserer Fortbewegung ließen uns albern über unsere Situation scherzen. Nach ca. einem unendlich wirkenden Kilometer entschieden wir uns, um uns den Zusammenbruch aller körperlichen Kräfte zu ersparen, unsere Taktik zu ändern und vierrädrige Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wir versuchten vorbeifahrende Autos anzuhalten, die uns eventuell die letzten 2 Kilometer bis nach Falkensee mitnehmen würden. Damit die Fahrzeugführer uns im Dunkeln des Waldes wahrnehmen konnten, ließen wir uns eine listige Methode einfallen. Immer wenn sich ein Auto näherte, riss mit letzter Kraft eine von uns die Hände kräftig in die Höhe, die andere leuchtete sie mit der Stirnlampe an und die dritte Wanderin unseres kleinen Teams probiere ebenfalls mit Winken auf uns aufmerksam zu machen. Das ganze Spektakel absolvierten wir Auto für Auto, doch niemand wollte uns mitnehmen. Kein Wunder! Es war 5:30 Uhr am Samstagmorgen auf einer einsamen Landstraße zwischen Schönwalde und Falkensee. Zudem machte unser lahmende und hinkende Laufstil eine bedenken freie Beurteilung unserer Personen für den potenziellen netten Lebensretter schwierig.
Plötzlich bremste ein PKW mit bulgarischem Kennzeichen, fuhr Schritttempo, überlegte kurz uns mitzunehmen. Ein kurzer Augenblick der Freude doch es fuhr dann einfach weiter. Wir gaben nicht auf und wiederholten die einstudierte Performance bis sich wie durch ein Wunder ein weißer Transporter erbarmte anzuhalten. Wir mobilisierten die letzte Energie und rannten zum Transporter. Dem Mann mit polnischem Akzent schilderten wir unsere missliche Lage. Er hatte erkennbar Mitleid, öffnete umgehend die Tür und wir durften einsteigen. Wir erzählten ihm von unseren Erlebnissen der Nacht. Dankbarkeit, Freude, das Gefühl war unbeschreiblich und nur wenige Minuten später setzte er uns am Zielort ab.
Wir kehrten erschöpft aber glücklich beim Bäcker ein, gönnten uns einen großen heißen Kaffee und einen kleinen Snack. Die wohlverdiente Auszeichnung in Form einer Urkunde nahmen wir stolz in Empfang. Auf den gemütlich weichen Stühlen verschnauften wir kurz, bis wir dann humpelnd den Weg Richtung Bahnhof, wohlgemerkt zu Fuß, antraten. Jeder verdammte Kilometer machte mich ersichtlich stolz diese weitere Herausforderung angenommen zu haben.
Zusammenfassung vom Veranstalter
Wanderteilnehmer: 97
Streckenlänge (100 km): 18 Wanderer erfolgreich absolviert
Streckenlänge (50 km): 63 Wanderer erfolgreich absolviert
Durchschnittliche Streckenlänge: 56 km
Meine persönlichen Daten (Runtastic)
Kilometer: 47,09 (bis zur Urkunde, ohne Nachhauseweg)
Dauer: 9:13:23 Stunden
Durchschnittliche Geschwindigkeit: 5,1 km/h
Pausenzeit: 56 Minuten